Eine Depression kennt keinen Anfang und kein Ende. Auch Leprous-Sänger Einar Solberg streckte nicht etwa ein Hammer nieder, vielmehr bahnten sich Kraft-, Mut- und Antriebslosigkeit schleichend an. Solberg greift die Zeit des Umgangs mit dem dräuenden und keimenden Abgrund auf, spinnt einen schwarzen Faden und hangelt sich thematisch sehr direkt daran entlang.
Gleichzeitig setzte der Verlauf der Depression auch Energien frei, bedingte ein Loslassen von alten Gewohnheiten. Bislang glich kein Album der Norweger dem anderen, führte aber zumindest bekannte Muster weiter. Die Vehemenz des musikalischen Umbruchs überrascht dennoch.
Der größte Anknüpfungspunkt liegt in der Struktur: Solberg favorisiert eine klassische Kompositionsweise, sozusagen Partitur statt Proberaum. Insofern tauchen einige Parameter auf, die sich seit "Coal" und "The Congregation" bewährt haben.
Die unvergleichliche Dynamik, die sich in einer transparenten Produktion widerspiegelt, bringt die emotionale Palette zum bersten. Der stete Wechsel zwischen Gitarren und Synths sowie die Spannung zwischen organischen Elementen wie dem Streichquartett und den synthetischen Klang-Konstrukten (Loops, Pads) haben auch schon lange Konjunktur im Arrangement des Quintetts.
Die metrisch-rhythmischen Vertracktheiten prägen die einzelnen Songs, dominieren sie trotzdem nicht. Hier agiert die Band Prog-untypisch, aber effektiv. Ein weiteres Trademark liegt natürlich in der ikonischen Stimme. Der Schwager des Schwarzwurzel-Hipsters Ihsahn besingt das fragile Antlitz der menschlichen Existenz. Dabei schwingt er seine Stimme in technisch anspruchsvolle Höhen. Das Falsett korrespondiert hervorragend mit dem Thema.
"I Lose Hope" beginnt mit einem hypnotischen Basslauf, der an "Under Pressure" und "Billy Jean" anknüpft. Die erste Hälfte des Albums ist eindeutig nah am Pop gebaut, auch wenn der vorletzte Track "Foreigner" eine straighte Alterna Prog-Perle darstellt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung steuert die Formation mit "Alleviate" an, einem Hookmonster, das in einer besseren Welt einen Hit abgäbe. Gerade in Bezug auf das Sounddesign liegen Welten zwischen diesem dreieinhalbminütigen Kleinod und den Shorties auf "Malina" ("Stuck", "Into The Flame").
"I am at the bottom, where I crashed": Die in den zweiten Refrain mündende Textzeile vertonen Leprous brillant. Voller Liebe zum Detail und minutiös geht das Quintett dabei vor, vergleichbar mit neoklassischen Lied-Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts.
"Distant Bells" schleicht in seiner minimalen Motivik behutsam durchs Oberstübchen. Gerade so präsent wie nötig, generieren Leprous ein bildgewaltiges Kopfkino, das sich in einem furiosen Finale auflöst.
Auf "The Sky Is Red" bricht ein Orkan über den Hörer herein, der danach kurz vor der Hirnschmelze steht. Je nach Stimmungslage schwankt die Bewertung dieses elfminütigen Monolithen zwischen Phönix aus der Asche und totaler Selbstkapitulation.
Gerade die Kopplung mit modernen Sounds der Marke Flying Lotus, Timbaland, die eher Beat-gestützt und Sample-lastig daherkommen, birgt für eine Rock-Band Gefahren. Muse scheiterten daran auf ihren letzten Alben regelmäßig. Alle großen Formationen haben diese Phasen durchlaufen, man denke nur an Rush, Genesis, King Crimson, Queen oder Bowie in den Achtzigern. Leprous kopieren nicht nur den Zeitgeist, sondern machen ihn sich zu eigen und harmonisieren die Konserven-Patterns mit den eigenen Markenzeichen, erwecken sie so sogar erst zum Leben.
Somit kreiert die norwegische Artprog-Kreativfabrik ein definiertes Zeitdokument, das der Seelenpein Kontur verleiht. Welche Kräfte im geistigen Kontinuum walten, darüber zerbrechen die Menschen sich seit Jahrhunderten die Köpfe. Das Quintett erschafft ein adäquates Pendant, das bei allem künstlerischen Anspruch auch ein gewaltiges Stück Lebenshilfe bietet.
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