Igor Levit hat keine Hemmungen. Der junge deutsch-russische Pianist setzt sich gerne mit den großen grundlegenden, komplexesten, unerklärlichsten Meisterwerken der Geschichte auseinander. Dieses neue Album beweist es einmal mehr. Nachdem er vor einigen Monaten die Klaviersonaten Nr. 30 – 32 von Beethoven und anschließend die Sechs Partiten von J. S. Bach veröffentlicht hat, stellt er im Rahmen ein und desselben Projekts eine Verbindung zwischen eben diesen beiden Komponisten her, und anhand der Variationsform kombiniert er also mit einer einzigen Geste die zwei größten Variationszyklen, die je im westlichen Europa komponiert worden waren und die von ihrer Dimension und ihrer anspruchsvollen Struktur und Polyphonie her über das eigentliche Prinzip der Variation hinausgehen und das Instrument regelrecht sprengen. In den Goldberg-Variationen erarbeitet Bach auf einer einzigen, übrigens herrlichen Basslinie dreißig Variationen. Beethoven radikalisiert mit den Diabelli-Variationen seine Kompositionen für Klavier noch ein Stück mehr, und er hat manchmal eine rechte Freude daran, von den Meistern der Vergangenheit Abstand zu nehmen. Levit fügt diesen beiden Monumenten eine weitere Komposition von großer Bedeutung hinzu, nämlich das Werk eines heute lebenden, 1938 im Bundesstaat Massachusetts geborenen Komponisten, Frederic Rzewski: The People United Will Never Be Defeated! Rzewski geht von einem „protest song“ aus, den der chilenische Chansonnier Sergio Ortega komponiert hatte: „¡El pueblo unido jamás será vencido!“ („Das vereinte Volk ist unbesiegbar“); dieser hatte es nach Allendes Wahl geschrieben und beim Militärputsch im Jahre 1973 wurde es weltweit bekannt. Zwei Jahre später entwickelte Rzewski vom Thema ausgehend ein immenses Geflecht von Variationen, die mehr als eine Stunde dauern und alle möglichen, vorstellbaren, modernen Spielarten durchlaufen. Es entstand ein wahrhaftes Konzentrat zeitgenössischer Musik, das von Schönberg bis in seine eigene Zeit reicht: Atonale Musik, Serielle Musik, Postmoderne, sogar Postromantik wie sie Rachmaninow praktizierte, sowie die jüngsten Klangexperimente aller Art, denen John Cage nicht abgeneigt gewesen wäre. Mit diesem Triple Album präsentiert Levit in mehr als drei Stunden seine eigene Ballade in unzähligen Variationen zum Thema der unendlichen Variationsmöglichkeiten. © SM/Qobuz