Wenn man den Begriff „englische Violamusik“ hört, hat man selbst als regelmäßiger Konzertbesucher oft keine Vorstellung davon, welche Art von Musik einen da erwarten könnte. Zwar haben sich auch hierzulande etliche Werke von Elgar, Vaughan Williams oder Britten etabliert, aber Namen wie York Bowen (1884-1961), Benjamin Dale (1885-1943) oder auch Frank Bridge (1879-1941) sind bei uns im Grunde trotz ihres mitunter umfangreichen Œuvres vollkommen unbekannt geblieben – Bridge kennt man fast nur im Zusammenhang mit dem Werk seines Schülers Britten, die Variations on a Theme by Frank Bridge.
Dabei gehören die drei auf dieser Aufnahme vereinten Komponisten einer ganzen Generation von Musikern an, die in London um die Jahrhundertwende eine Epoche der Spätromantik und der klassischen Moderne begründete. Allen dreien gemeinsam ist die Vorliebe für den Klang der Viola, deren dunkles und melancholisches Timbre in musikalischer Hinsicht die Fin-de-Siècle-Stimmung widerspiegelt, die zu dieser Zeit viele Künstler, Intellektuelle und Literaten erfasst hatte. Bowens Sonate, Dales Fantasie und die sechs Stücke von Bridge entstanden allesamt zwischen 1901 und 1910, also zu einer Zeit, in der sich auf dem Festland die Kompositionsweise in Dur-Moll-Tonalität aufzulösen begann – im Konservativen England aber längst noch nicht. Die Tatsache, dass nun ausgerechnet die lange Zeit in solistischer Hinsicht ein Schattendasein führende Bratsche ungewöhnlich häufig bedacht wurde, mag außerdem damit zusammenhängen, dass es mit Lionel Tertis (1876-1975) zum ersten Mal einem Bratschisten gelang, sich als Solist weltweit einen Namen zu machen, so dass es erstrebenswert schien, mit diesem Künstler zusammenzuarbeiten und ihm Kompositionen zu widmen.
Gernot Adrion ist seit 1996 stellvertretender Solobratschist im Rundfunksinfonieorchester Berlin. Seit 2006 spielt er regelmäßig im Gideon-Klein-Trio, mit dem er Streichtrioliteratur vom Frühbarock bis in die Moderne pflegt. Mit der Pianistin Yuki Inagawa arbeitet er seit 2012 zusammen und bewegt sich neben der klassisch-romantischen Standardliteratur auch in der Barockmusik. © Marc Trautmann/Qobuz