Hildegard von Bingen ist ein dreifaches Wunder: Ein Wunder, dass im 12. Jahrhundert eine Frau solch ein Werk überhaupt geschrieben hat, ein Wunder, dass sie ihren Namen auf den Kompositionen ließ zu einer Zeit, in der die meiste Musik anonym blieb und ein Wunder, dass die Manuskripte uns nach acht Jahrhunderten in perfektem Zustand erreicht haben. Wir kennen nur wenige Namen von Komponisten des 12. Jahrhunderts, und wenn überhaupt, verfügen wir in den meisten Fällen über keinerlei weitere Informationen über sie, insbesondere darüber, welche Stücke sie geschrieben haben könnten. Auch in dieser Hinsicht ist Hildegard eine Offenbarung. Ihre Werke der geistlichen Musik, d.h. 77 Stücke sowie das liturgische Drama Ordo Virtutum, zeugen von einem persönlichen Ansatz, der von der monophonischen Tradition des gregorianischen Gesangs beeinflusst ist, aber weder in seiner Zeit noch danach etwas anderem gleicht. Hildegard bestritt, eine Ausbildung in Neumen oder im Gesang erhalten zu haben, man kann jedoch annehmen, dass es sich um die Haltung einer Person handelt, die ihre eigenen Fähigkeiten nicht erkennen kann. Durch ihre Vita wissen wir, dass ihre Vorsteherin Jutta von Sponheim ihr beibrachte, Psalmen zu singen und auf dem zehnsaitigen Psalter Dank zu sagen. Wir wissen auch, dass die Nonnen vom Kloster Rupertsberg Gesangsstunden nehmen mussten. Wir wissen jedoch nicht, worin diese Stunden bestanden, doch in Anbetracht des Schwierigkeitsgrades der melismatischen Kompositionen, die oft virtuos waren und einen großen Stimmumfang erforderten, ist anzunehmen, dass sie zumindest einigen Anforderungen unserer Zeit entsprechen mussten. Hildegard komponierte ihre Gesänge für die örtlichen Feste und das Kirchenjahr. Ihre hochmelodische Musik lädt dazu ein, sie etwas zu ornamentieren. Als Herausforderung hat sich as Tiburtina Ensemble dazu entschlossen, eine improvisierte Begleitung der homophonen Gesänge auf den ältesten gezupften Saiteninstrumenten, der Harfe und dem Dulce melos (einer Kastenzither), zu spielen. © SM/Qobuz